Egoistisch zu sein, ist OK.

Wenn Du Dich mit Selbstverteidigung und Eigenschutz befasst, wirst Du Dich mit dem Thema Zivilcourage resp. Hilfeleistung an Drittpersonen früher oder später (am besten freiwillig aus eigenen Stücken oder – weniger optimal – durch plötzlich eingetretene Umstände) auseinandersetzen müssen. Du wirst entscheiden müssen, ob Du gewillt bist, Deine Fähigkeiten für andere Personen einzusetzen und ob Du zum Beispiel einer anderen (fremden) Person, die angegriffen oder bedroht wird, zur Hilfe zu eilst und wenn ja, wie Du dies am besten tust.

«Die Haupt- und Grundtriebfeder im Menschen, wie im Tiere, ist der Egoismus, d.h. der Drang zu Dasein und Wohlsein.»

(Arthur Schopenhauer)

In meiner Kindheit wurde ich – wie Du sicher auch – von meinem Umfeld darauf sensibilisiert, nicht egoistisch zu sein. Ich wurde daran gewöhnt, immer auch an andere zu denken und denjenigen zu helfen, die Hilfe benötigen. Ein solches Denken und Handeln ist meines Erachtens unverzichtbare Grundlage jeder funktionierenden Gesellschaft.

Diese Werthaltung hat sich über die Jahre hinweg tief in mir verwurzelt und sie lenkt mich noch heute; ich habe sie mir als Eigenschutz-Instruktor gar zum Beruf gemacht; ich strebe danach, andere Menschen zu befähigen, sicher durch’s Leben gehen zu können.

So wichtig diese Sorge um andere Personen ist, so wichtig ist es aber auch, egoistisch zu sein. Widerspreche ich mir damit?

Nein.

Es kommt stets auf die jeweilige Situation an. Es gibt Situationen und Umstände, die es nicht nur erlauben, sondern viel eher geradezu erfordern, egoistisch zu denken und zu handeln.

Stelle Dir folgende Szenarien vor:

Szenario 1

Du bist nach der Arbeit auf dem Nachhauseweg und wirst Zeuge, wie auf der anderen Strassenseite eine Frau von einem Angreifer auf den Boden gerissen und mit Fusstritten zu Kopf und Körper traktiert wird, während sie regungslos am Boden liegt. Es regnet wie aus Kübeln und es ist dunkel, die stark befahrene Strasse ist schlecht beleuchtet und es herrscht dichter Feierabendverkehr.

Natürlich verspürst Du den Drang, unverzüglich über die Strasse zu rennen und den Angreifer von der Frau wegzureissen. Aber stopp! Um dabei nicht selbst überfahren zu werden, musst Du aber zuerst auf einen Moment warten, in dem Du die Strasse gefahrlos überqueren kannst, auch wenn der Angreifer währenddessen weiter ungebremst auf die Frau eintritt und ihr in dieser Zeit möglicherweise schwerste Verletzungen zufügt. Das Einzige, was Du während der von den Umständen aufgezwungenen Wartezeit tun kannst ist, den Notruf zu wählen und auf eine geeignete Lücke im Verkehr zu warten. Tust Du das nicht und wirst stattdessen vom Verkehr erfasst, ist gar niemandem gedient und Du kannst der Frau auch nicht mehr helfen!

Eigentlich logisch, aber im Stress eines solchen Ereignisses, kann das schon mal vergessen gehen.

Ein ähnliches Ereignis hat sich leider erst kürzlich zugetragen, als eine beherzte Frau einem gestürzten Velofahrer zur Hilfe eilen wollte und dabei selbst von einem Auto erfasst wurde (https://m.20min.ch/schweiz/ostschweiz/story/-helfen-bringt-nichts–wenn-man-sich-selbst-gefaehrdet–26961124).

Szenario 2

Oder stell Dir vor: Du bist in den Ferien mit dem Auto unterwegs und musst einen Tankstopp einlegen. Nach dem Auftanken gehst Du mit Deinen Kindern in den Tankstellenshop um etwas Reiseproviant für die Weiterfahrt zu kaufen. Auf einmal siehst Du aus den Augenwinkeln, wie drei Männer plötzlich Messer aus ihren Jackentaschen ziehen, damit herumfuchteln und den Kassier des Tankstellenshops anschreien. Da dieser nicht sofort die Kasse öffnet, verletzt einer der Angreifer den Kassier am Oberarm, um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen. Der Kassier schreit vor Schmerzen und versucht die Kasse zu öffnen, was ihm aber nicht zu gelingen scheint. Das wiederum macht die Angreifer noch nervöser und aggressiver und Du hast das Gefühl, dass sie gleich nochmals zustechen werden.

Was machst Du nun? Deine erste Priorität muss meines Erachtens sein, Deine Kids so schnell und so sicher wie möglich aus dem Shop heraus in Sicherheit zu bringen.

Ist dieses Handeln egoistisch? Ja, klar. Aber als Elternteil bist Du in erster Linie für die Sicherheit Deiner Kinder verantwortlich. Ob Du danach und nach der erfolgten Alarmierung der Polizei Dich zurück in den Shop begibst um die 3 Angreifer davon abzuhalten weiter auf den Kassier einzustechen, bleibt Deine Entscheidung. Bedenke aber, dass Du als Elternteil primär für Deine Kinder da zu sein hast. Ob Du das noch kannst, wenn Du Dich alleine gegen drei bewaffnete Kriminelle stellst – die im Übrigen bereits gezeigt haben, dass das Leben einer anderen Person für sie wenig Wert hat – ist mehr als fraglich. Wie wichtig ist es Dir, dass Deine Kinder nicht als Halbweisen aufwachsen müssen? Wie wichtig ist es Dir, Unrecht zu stoppen und Leben zu retten? Das Leben des Kassiers? das Leben Deiner Kinder?

Im Leben geht es darum, Entscheidungen zu treffen. Entscheidungen zu fällen ist manchmal einfach und manchmal führen sie Dich in ein moralisches Dilemma. Manchmal gibt es kein richtig oder falsch und oft müssen gerade solche schwierigen Entscheidungen unter enormem Druck und innert Sekundenbruchteilen gefällt werden. Hier hilft es, wenn Du Deine Hausaufgaben gemacht und Dir schon im Vorfeld über Deine Prioritäten und Verantwortlichkeiten im klaren bist.

Für diejenigen unter uns, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Menschen in Notsituationen zu helfen, ist eines der schwierigsten Dinge, nicht helfen zu können und besonders: sich zu entscheiden, nicht zu helfen… Denn es gehört für uns einfach dazu, anderen zu helfen.

Aber sieh es einmal so: Weil Du die schwere Entscheidung getroffen hast, in einer bestimmten Situation einer Person nicht zu helfen, bist Du in der Lage, einer anderen Person zu einem anderen Zeitpunkt erfolgreich zu helfen. Wenn Du deine Intuition ignorierst und Dir einfach sagst, «shit, fuck the consequences!», riskierst Du in gewissen Situationen höchstwahrscheinlich mit unserem Leben für Deine Unbesonnenheit zu bezahlen; und das ist ein Preis, den Du Deinen Liebsten, Deinen Teammitgliedern und allen anderen, die sich auf Dich verlassen, nicht aufbürden darfst.

In Situationen wie den oben beschriebenen, ist die eigene Sicherheit höchst gefährdet. Die eigene Sicherheit ist jedoch wichtiger als alles andere, denn wenn sie nicht gewährleistet ist und wir trotzdem einschreiten, verlieren wir höchstwahrscheinlich zusammen mit der Person, der wir helfen wollten, das Leben. Und das nützt gar niemandem etwas.

Unabhängig davon, ob es nun fehlende persönliche Schutzausrüstung oder die Umstände der Situation sind, welche nicht nur das Leben der Person – der wir helfen möchten – erheblich gefährden, sondern auch unseren Einsatz übermässig riskant machen; es liegt an uns die richtige Entscheidung zu treffen. Das bedeutet, dass wenn die Gefährdung für uns zu hoch ist, wir auf ein direktes Eingreifen verzichten müssen, oder aber zumindest eine andere, weniger riskante Art und Weise, wie wir der Person Hilfe zukommen lassen können, finden müssen.

Versteh mich nicht falsch, ich will Dir damit nicht sagen, dass Du in einer riskanten Situation nichts tun sollst, denn jede Situation, die das Anwenden von Selbst- oder Drittpersonenschutz Taktiken oder Techniken verlangt, birgt inhärente Risiken. Ich möchte Dir mit diesen Zeilen nahelegen, Dich im Vorfeld – möglicht noch heute – mit solchen Risiken auseinanderzusetzen und Deine Prioritäten und Verantwortungen für Dich zu klären, damit Du im entscheidenden Sekundenbruchteil eine Entscheidung treffen kannst, mit deren Konsequenzen Du leben kannst.

Ich möchte auch, aus aktuellem tragischen Anlass, daran erinnern, dass es wichtig ist, Deine eigenen Limiten und die durch die jeweilige Situation gegebenen Begrenzungen und Risiken zu erkennen und zu respektieren. Dies erlaubt uns zu erkennen, wo, wann und wie wir helfen können und – noch wichtiger -wo, wann und wie nicht.

In diesem Sinne: setzt Dich weiterhin für andere ein, sei aber egoistisch genug, dabei so vorzugehen , dass Du auch in Zukunft noch möglichst vielen weiteren Menschen helfen kannst.