Selbstverteidigung verstehen

Wir leben in herausfordernden Zeiten und nicht alles verändert sich nur zum Guten. Gewalt entwickelt sich immer mehr zu unserem täglichen, medialen Begleiter. Eine Gewalt, die immer wahlloser erscheint und vermehrt ohne Vorwarnung im öffentlichen Raum ausgeübt und wahrgenommen wird. Das subjektive Sicherheitsgefühl leidet, weil es den Anschein erweckt, dass Gewalt jeden jederzeit und überall treffen kann.

Themen wie Sicherheit, Eigenschutz und Selbstverteidigung nehmen in öffentlichen wie auch privaten Diskussionen einen immer grösseren Raum ein und wir sind gefordert, uns mit verschiedensten Werten (und Unwerten) auseinanderzusetzen und dabei unsere eigenen Werte und Einstellungen kritisch zu überprüfen.

Das Angebot an Selbstverteidigungskursen wächst täglich. Unzählige Instruktoren, Senseis und Trainer vermitteln ihren Schülern Techniken, um sich möglichst effizient aus verschiedensten An- und Übergriffsituationen in Sicherheit zu bringen. Diese Techniktrainings können – je nach Background des Instruktors – unterschiedlich ausfallen. Etwas haben aber leider fast alle gemeinsam:

Den Schülern werden primär Techniken beigebracht, die dazu dienen, sich zu verteidigen, wenn der Angriff/Übergriff unmittelbar bevorsteht oder bereits ausgeführt wird.

Was dabei leider oft in den Hintergrund gerät und – wenn überhaupt – kaum genügend in das Selbstverteidigungstraining einfliesst, ist die Tatsache, dass Selbstverteidigung nicht nur aus der technischen Anwendung körperlicher Gewalt besteht, sondern aus einer Matrix verschiedener Phasen, Elemente, Prinzipien und Prioritäten:

Zeitlich gestaffelt sind dies:

  • Phase vor dem Konflikt
  • Phase während des Konflikts
  • Phase nach dem Konflikt

Inhaltlich betrifft dies:

  • Psychologische Elemente
  • Taktische Elemente
  • Körperliche Elemente
  • Medizinische Elemente
  • Rechtliche Elemente

Hinzu kommen die 7 Prinzipien der Selbstverteidigung:

  • Aufmerksamkeit
  • Entschlossenheit
  • Aggressivität
  • Geschwindigkeit
  • Selbstbeherrschung
  • Schonungslosigkeit
  • Überraschungseffekt

(vgl. Cooper Jeff, „Principles of Personal Defense“, Paladin Press, Colorado, 1989)

Das Ganze ist dann noch im Kontext und nach den Prioritäten von John “Lofty” Wiseman’s ‘Vital Pyramid’:

  • Mindset
  • Tactics
  • Skills
  • Tools

ins Training zu integrieren.

Sehr häufig sind leider überwiegend ausschliesslich technische (und nach dem oben ausgeführten, somit unzureichende) Selbstverteidigungstrainings anzutreffen. Dies mag daran liegen, dass viele Trainer/Senseis/Instruktoren, die sich auf dem Markt tummeln, lediglich einem Background in per se eher ‘techniklastigen’ Kampfkunst- oder Kampfsportarten aufweisen. Oder auch daran, dass es schlichtweg einfacher ist, Trainingsteilnehmer mit einem technischen (und u.U. auch körperlich forderndem) Training mit einem guten Gefühl nach Hause zu entlassen, als wenn man Ihnen auch die unangenehmen, aber essentiellen übrigen Elemente der Selbstverteidigung immer wieder vor Augen führt, in Erinnerung ruft und trainieren lässt.

Uns Selbstverteidigungs-Instruktoren obliegt es, möglichst viele Personen zu befähigen, im Ernstfall – der hoffentlich nicht eintritt (was wohl eher ein frommer Wunsch bleiben dürfte) – ihre körperliche, geistige und seelische Integrität zu schützen und zu verteidigen. Ich bin der Auffassung, dass Selbstverteidigung nur dann funktioniert, wenn Phasen, Elemente, Prinzipien und Prioritäten gleichermassen gekannt, verstanden, verinnerlicht, trainiert und angewendet werden, was – wie festgestellt – leider nicht immer gewährleistet ist.

Deshalb werde ich künftig an dieser Stelle das, was ich als stetiger Schüler in diesem Gebiet gelernt habe, meine Ideen, Überlegungen und Erfahrungen niederschreiben und mit Euch teilen. Vielleicht hilft dies der/dem einen oder anderen, besser zu verstehen und folglich besser anzuwenden, was im Selbstverteidigungstraining erlernt wurde. Oder aber, es gelingt durch korrekte Einschätzung und entsprechendes Handeln, eine potentiell gefährliche Situation zum Vornherein zu vermeiden.

Ich freue mich auf einen regen Austausch zum Thema Selbstverteidigung.

The society that separates its scholars from its warriors will have its thinking done by cowards and its fighting by fools.

– Thucydides, History of the Peloponnesian War (ca 410 B.C.)